Elmshorn für Anfänger

Geschichten von einer, die auszog, im Hamburger Speckgürtel zu leben. Eine pragmatische Liebeserklärung.

Betroffene und fassungslose Gesichter nach Vortrag des Seenotretters im Mühlencafé

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Es war der Beitrag des Willkommensteams zur diesjährigen Interkulturellen Woche: ein Vortrag des Rettungssanitäters Kai Anders aus Itzehoe, der von seinen Einsätzen zur Seenotrettung mit der Organisation Sea-Watch berichtete, die bislang rund 30.000 Flüchtlingen auf dem Mittelmeer das Leben gerettet hat.

Etwa 50 Menschen waren am 25. September 2019 der Einladung des Willkommensteams ins Mühlencafé gefolgt, um von Kai Anders aus erster Hand zu erfahren, wie die Organisation Sea-Watch entstanden ist, wie ein Einsatz zur Seenotrettung abläuft und was er persönlich dabei schon alles erlebt hat.

Sea-Watch ist Ende 2014 aus einer Initiative von Freiwilligen entstanden, die dem Sterben von Flüchtlingen im Mittelmeer nicht mehr länger tatenlos zusehen konnten. Hintergrund war das Ende der italienischen Marineoperation Mare Nostrum, mit der zuvor Flüchtlinge im Mittelmeer gerettet worden waren. Im Mai 2015 wurde Sea-Watch als Verein eingetragen, kaufte einen alten Fischkutter, ließ ihn umbauen und nutzte ihn unter dem Namen Sea-Watch ab Juni 2015 im Mittelmeer für die private Seenotrettung von Flüchtlingen. Im Dezember 2015 erwarb der Verein das Nachfolgeschiff, die Sea-Watch 2. Das aktuelle Rettungsschiff ist die Sea-Watch 3, ein ehemaliges Versorgungsschiff für Ölbohrplattformen mit großer Ladekapazität. Außerdem besitzt der Verein ein kleines Aufklärungsflugzeug, die Moonbird, mit dem die Seenotretter das Mittelmeer abfliegen und Boote mit Flüchtlingen ausmachen können. „Vom Flugzeug aus kann Sea-Watch aber auch Menschenrechtsverletzungen durch die libysche Küstenwache dokumentieren“, erzählte Kai Anders. Sämtliche Aktivitäten des Vereins werden ausschließlich durch Spenden finanziert.

Erfahrung im Rettungsdienst – aber keinerlei Kenntnisse der Schifffahrt

Kai Anders

Foto: Antje Thiel

Ein Einsatz auf der Sea-Watch läuft über vier Wochen und wird immer von Journalisten begleitet, um unabhängige Berichterstattung zu ermöglichen. Seine Erfahrung als Rettungssanitäter macht Kai Anders zu einem gefragten Crew-Mitglied: Er kann er auf hoher See die vor dem Ertrinken geretteten Flüchtlinge, aber auch die Crew des Schiffs Schlepper medizinisch versorgen. „Vor meinem ersten Einsatz bin ich noch nie gesegelt, nur mal mit der Fähre nach Helsinki gefahren“, berichtete Kai Anders. Dennoch fand er sich in den Prozessen an Bord schnell zurecht: „Um die Sicherheit an Bord zu gewährleisten, müssen alle Crew-Mitglieder viele Trainings durchlaufen.“ Er musste Seeknoten lernen, denn wenn das Schiff am Kai festmacht, wird jede Hand gebraucht. „Es gibt auf einem Schiff auch viele Checklisten, das kenne ich aus meiner Arbeit im Rettungsdienst“, erzählte er weiter. Die Crews bei Sea-Watch seien bunt gemischt und stamme aus verschiedenen Ländern: „Sprache an Bord ist englisch.“

Einfachste Schlauchboote voller Nichtschwimmer

Die Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa gelangen wollen, stammten überwiegend aus Ländern wie Eritrea und dem Südsudan, teilweise auch aus Syrien. „Die Schlepper bestellen über das Internet einfachste Schlauchboote ohne Licht oder Navigation, gehen aber selbst nicht mit an Bord“, berichtete der Seenotretter. „Die meisten Flüchtlinge können nicht schwimmen und haben auch gar keine Vorstellung, wie groß das Mittelmeer ist. Normalerweise wäre es in einem Tag zu schaffen, die kritische 24-Meilen-Zone zu verlassen, aber weil sie nicht navigieren können, eiern die Boote oft auf einem Schlingerkurs über mehrere Tage herum.“

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Foto: Se-Watch

Schnellboote mit Anhänger und ‚Sandy Floats‘ im Schlepptau

Die Besatzung der Sea-Watch entdecke die Boote entweder selbst oder bekomme die Koordinaten von anderen Schiffen oder von ihrem eigenen Aufklärungsflugzeug mitgeteilt. „Wir nennen das ‚spotten’, jeder an Bord muss diese Schichten schieben und vier Stunden durch ein Fernglas gucken, bis man schielt.“ Die anderen können derweil schlafen, bis ihre Schicht beginnt. Wird ein Boot entdeckt, werden alle geweckt, dann muss es schnell gehen. Dann werden noch während der Fahrt Schnellboote zu Wasser gelassen, an denen Anhänger mit Rettungswesten und sogenannte Sandy Floats befestigt sind. „Die Schnellboote fahren vorweg, denn sie sind schneller als das große Schiff. Das läuft ähnlich organisiert wie im Rettungsdienst, es gibt koordinierende Einsatzleiter, der von der Brücke aus Einsatz leitet“, erklärte Kai Anders.

150 Leute auf einem Schlauchboot – die hätten ohne Seenotrettung keine Chance

Beim ersten Kontakt hätten die Flüchtlinge oft Angst: „Immerhin tragen wir Helme und Westen, fahren mit schnellen Booten. Deshalb sind immer auch Dolmetscher dabei, die die Flüchtlinge beruhigen sollen – schließlich müssen die ja auch mitmachen.“ Die erste Aktion der Helfer ist es, alle Insassen der Schlauchboote mit Schwimmwesten auszustatten und ihnen zu zeigen, wie man sie korrekt anlegt. Nur selten werden die Flüchtlinge schon in Libyen von ihren Schleppern mit Schwimmwesten ausgestattet. „Die allermeisten Boote sind komplett überbelegt“, berichtete Kai Anders, „wir haben schon 150 Leute auf einem Schlauchboot gesehen – die hätten ohne Seenotrettung nicht die geringste Chance.“ Häufig begännen die Boote bereits mit Wasser vollzulaufen: „Dann geht es ganz schnell, dann ertrinken Menschen!“ Genau aus diesem Grund stehe die Ausstattung aller Menschen mit Schwimmwesten an erster Stelle, sagte der Seenotretter und reichte ein paar Schwimmwesten im Publikum herum.

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Foto: Antje Thiel

Nicht immer kommen die Seenotretter rechtzeitig. „Wenn wir Leichen im Wasser entdecken und ausreichend Zeit haben, ziehen wir die Körper heran, ziehen ihnen eine Schwimmweste an und machen ein Foto, das wir an das Rote Kreuz weiterleiten“, berichtete der Itzehoer. Das Rote Kreuz könne dann mit seinem Suchservice Verwandte benachrichtigen, die Angehörige vermisst gemeldet haben. Man habe allerdings keine Kapazitäten, um die Leichen mitzunehmen: „Die Sea-Watch hat keinen Kühlraum, deshalb lassen wir die Leiche dann in ihrer Schwimmweste auf dem Meer treiben.“

Der jüngste Passagier war erst drei Wochen alt

Den Platz an Bord benötigt die Sea Watch 3 für gerettete Flüchtlinge, Verpflegung und Frischwasser sowie Material für die Seenotrettung und medizinische Erstversorgung. „Das Schiff ist eigentlich für 200 Menschen ausgelegt, ich hatte aber schon 463 Personen an Bord“, erzählte Kai Anders. Die meisten Flüchtlinge seien junge Männer, doch es sind auch Familien und Frauen mit Babys und Kleinkindern in den Schlauchbooten unterwegs. „Das jüngste Baby, das ich auf der Sea-Watch versorgt habe, war erst drei Wochen alt.“

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Foto: Sea-Watch / Grodotzki

Wenn alle Flüchtlinge mit Schwimmwesten ausgestattet sind, werden sie in kleinen Gruppen von fünf bis sieben Personen mit den Schnellbooten zum Schiff gebracht, das bis zu eine Seemeile Abstand hält: „Wir machen das, damit niemand versucht, vom Schlauchboot aus zum Schiff zu schwimmen.“ Noch im Schnellboot erfolge der erste medizinische Check. Die Flüchtlinge bekommen Plastikarmbänder um den Arm: eine Farbe für medizinische Fälle, eine andere für Kinder, wieder eine andere für schwangere Frauen. Auf diese Weise kann sich der Arzt, der an Bord die eintreffenden Flüchtlinge behandelt, schneller um die kümmern, die zuerst seine Hilfe benötigen.

Fußverletzungen, Infektionen, Krätze, Folterverletzungen, Unterernährung

Oft seien die Schlauchboote provisorisch mit Sitzbrettern versehen, aus denen auf der Sitzfläche dicke Schrauben ragen. „Wir sehen deshalb häufig Fußverletzungen wegen dieser Schrauben auf den Booten. Aber auch Infektionen und Hauterkrankungen wie Krätze“, berichtete Kai Anders. Viele Flüchtlinge hätten lange Zeit in Internierungslagern in Libyen verbracht und hätten entsprechende Folterverletzungen. Vielen seien auch unterernährt. Der Medic Room an Bord erinnert an das Innere eines Rettungswagens. Für die Frauen – viele von ihnen Vergewaltigungsopfer, manche schwanger – biete man eine spezielle Frauensprechstunde mit weiblichem medizinischem Personal an. „Zuallererst sind die Flüchtlinge nach ihrer Rettung aber unglaublich müde, die meisten legen sich an Deck und schlafen erst einmal drei Stunden“, sagte der Seenotretter.

Es gebe an Bord keinen separaten Raum, in dem infektiöse Patienten in Quarantäne genommen werden können – dafür reiche der Platz einfach nicht aus. Überhaupt ist das Leben an Bord nicht luxuriös: „Nur besonders schutzwürdige Flüchtlinge dürfen ins Schiff, alle anderen bleiben an Deck.“ Bei ganz akuten medizinischen Notfällen baue das Land-Team von Sea-Watch Druck auf, damit diese Flüchtlinge sofort evakuiert werden. Alle anderen schippern weiter mit, auf der Suche nach weiteren herumirrenden Schlauchbooten, bis das Rettungsschiff voll belegt ist und die Geretteten in den nächsten Hafen bringt.

Stimmung an Bord ist gut, es gibt trotz der Enge keinen Streit

„Wir haben dann 400 Leute an Bord, die aus verschiedenen Ländern mit verschiedenen Kulturen und Sprachen stammen“, berichtete Kai Anders, „und das alles auf engstem Raum.“ Doch die Stimmung sei immer gut, es gebe keinen Streit. „Im Gegenteil: Die Flüchtlinge helfen der Crew, sind erstaunlich entspannt und geduldig.“ Manchmal reiche man eine Gitarre herum oder hänge die aktuellen Fußballergebnisse aus, um die Passagiere bei Laune zu halten. Nur wenn die Einfahrt in den Hafen sich verzögere, weil die Behörden das Schiff nicht anlegen lassen wollen, könne die Stimmung kippen. Was nach der Seenotrettung auf dem europäischen Festland mit den Menschen passiert, weiß Kai Anders nicht: „Wir fragen nicht nach Papieren oder Fluchtgründen. Unser Job ist es, Leben zu retten.“ Manche Menschen erzählten von sich aus ihre Geschichte, das seien dann besonders spannende Begegnungen.

Psychologische Betreuung für die Crew nach den Einsätzen

Um die zum Teil belastenden Eindrücke verarbeiten zu können, wird die Crew der Sea-Watch psychologisch betreut. „Aber es wird auch schon bei den Bewerbungen auf psychische Belastbarkeit geachtet“, sagte der Seenotretter, „wenn jemand erzählt, dass er bei Stress unbedingt erst einmal zehn Kilometer laufen muss, um den Kopf wieder frei zu bekommen, dann ist schon klar, dass es für ihn auf einem Schiff nicht funktionieren wird.“ Vor jedem Einsatz gebe es ein Briefing, nach dem Einsatz ein entsprechendes Debriefing. Auch diese Herangehensweise ist Kai Anders aus seinem regulären Job vertraut: „Das ist wie im Rettungsdienst, auch da gibt es Angebote zur Stressbewältigung nach dem Einsatz.“

Sea-Watch 3 wird aktuell von den italienischen Behörden festgehalten

Wann die Sea-Watch 3 wieder in See stechen wird, ist derzeit noch ungewiss. „Das Schiff wurde von der italienischen Küstenwache beschlagnahmt und ist seit 80 Tagen in Italien an der Kette“, berichtete Kai Anders. Als offizielle Begründung werde angegeben, dies diene der Sicherung von Beweisen. Doch die EU-Behörden seien in diesem Punkt sehr findig: Auch Schiffe anderer Rettungsorganisationen würden häufig mit fragwürdigen Argumenten festgehalten: Mal hatte man angeblich den Müll falsch getrennt, mal das Schiff falsch beflaggt. Den EU-Behörden sei aktuell beinahe jedes Mittel recht, um die Arbeit der Seenotretter zu behindern. „In der Vergangenheit haben viele Handelsschiffe Flüchtlinge aufgenommen, auch die italienische Küstenwache war kooperativ“, berichtete Kai Anders. Doch weil aktuell Italien Handelsschiffe mit Flüchtlingen an Bord nicht einlaufen lasse, scheuten die Kapitäne von Handelsschiffen die Aufnahme von Flüchtlingen – schließlich müssen sie ihre Ware planmäßig anliefern.

Viele Flüchtlinge stürzen sich lieber ins Meer als zurück nach Libyen zu gehen

Damit möglichst wenig Boote überhaupt erst den Weg nach Europa schaffen, lasse die EU nun die libysche Küstenwache die ‚Drecksarbeit’ machen, sprich: Flüchtlinge nach Afrika zurückzuführen. Kai Anders kritisierte: „Die libysche Küstenwache bekommt viel Geld von der EU für die Rückführung der Flüchtlinge, hat aber keine geeigneten Schiffe für die Seenotrettung und arbeitet zum Teil mit Schleppern zusammen. Flüchtlinge, die die Verhältnisse in den libyschen Internierungslager kennen, stürzen sich oft lieber ins Meer als zurück nach Libyen zu gehen.“

Nach seinem Vortrag blickte Kai Anders in fassungslose und betroffene Gesichter. Was kann man also tun, um das Massensterben auf dem Mittelmeer zu verhindern? Man kann für den gemeinnützigen Verein Sea-Watch spenden oder durch eine Fördermitgliedschaft dauerhaft unterstützen. „Es hilft aber auch, sich an Demonstrationen zu beteiligen, sich für die Aktionen Seebrücke  oder Sicherer Hafen einzusetzen oder ganz einfach weitererzählen, was Sea-Watch macht“, schloss Kai Anders.

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Foto: Sea-Watch

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