Mein Orientierungssinn ist nicht sonderlich ausgeprägt, entsprechend häufig verlaufe oder verfahre ich mich im Alltag. Einen richtigen Schreck jagte mir deshalb das Ortsschild „Sibirien“ ein – es begegnete mir, als ich das erste Mal nichtsahnend die Wittenberger Straße in Elmshorn entlang fuhr.
Wer in Elmshorn aufgewachsen ist oder bereits länger hier lebt, der stolpert vermutlich längst nicht mehr über einige eigentümliche Ortsteil- oder Straßennamen. Doch als Neuling muss man unweigerlich stutzen, wenn man beim Erkunden der neuen Heimat auf einen Ortsteil „Sibirien“ stößt. (Habe ich mich etwa verfahren? Wie konnte das passieren? Mein Orientierungssinn hat mich ja schon oft getrogen – aber gleich so weit ab vom Schuss?). Oder auf Straßennamen wie Robbenschlägerweg, Walfängerstraße, Am Eiskeller und Grönlandstraße. (Ein Ortsteil der Elmshorner Nachbargemeinde Sommerland heißt sogar tatsächlich Grönland…) Warum bezieht man sich an so vielen Stellen auf diese doch eher frösteligen Regionen unseres Planeten? Was hat das alles mit der norddeutschen Kleinstadt Elmshorn zu tun?
Mit dem Frachtsegler „Flora“ auf Wal- und Robbenjagd in Grönland
Der Bezug zu Grönland ist rasch gefunden: Elmshorn war dank seines Hafens, dem man heute seine einstige Bedeutung nicht mehr unbedingt ansieht, und des Zugangs zur Elbe über die Krückau seit Anfang des 19. Jahrhunderts eine Walfängerstadt. Hintergrund waren der seinerzeit steigende Bedarf an Walöl und dänische Subventionen für schleswig-holsteinische Grönlandfahrer. Einige Elmshorner Bürger erwarben gemeinsam den Frachtsegler „Flora“ und bauten ihn zu einem Wal- und Robbenfängerschiff um, das in den nächsten 50 Jahren immer wieder zur Wal- und Robbenjagd gen Grönland steuerte. Das Schiff konnte 450 Fässer Robben- und Walspeck laden, aus dem der wertvolle Tran gewonnen wurde. Welche Bedeutung der Walfang für die Stadt Elmshorn hatte, verrät ein Blick auf das Stadtwappen, das die „Flora“ in vollen Segeln zeigt. Auch der Name „Florawoche“ für die Woche mit Jahrmarkt, Veranstaltungen, Konzerten und sonstigen kulturellen Aktivitäten unmittelbar vor dem jährlichen Hafenfest Ende August spricht für sich.

Das Wappen Elmshorns zeigt das Walfängerschiff „Flora“, nach dem auch die Festwoche vor dem jährlichen Hafenfest benannt wurde.
Sibirien ist für Elmshorner vor allem ein Naherholungsgebiet
Warum ein Ortsteil am Rande Elmshorns ausgerechnet den Namen Sibirien trägt, ist hingegen nicht so leicht in Erfahrung zu bringen. Nur weil ein Landstrich viele Moor-, Wald- und Heideflächen aufweist, muss man ihn doch nicht gleich nach einem riesigen, unwirtlichen und einsamen Gebiet im östlichsten Teil Russlands benennen… Nichtsdestotrotz habe ich mich mittlerweile daran gewöhnt und nutze den Sibirischen Forst sogar gelegentlich für mein Lauftraining – und natürlich fahre ich hierfür mit dem Fahrrad bis Sibirien und wieder zurück.
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5. Mai 2019 um 15:40
Das Elmshorner Unternehmen Kölln Flocken ist, dem Wirtschaftsteil des Hamburger Abendblatt vom 04.05.2019, S. 5 zufolge, seinerzeit durch die Versorgung der Grönlandfahrer mit Sciffszwieback groß geworden. Ein ironischer Schlenker der Geschichte des Kapitalismus: Ein Großbetrieb mit nahezu mustergültig vegetarischem Produkt gründet seine Entstehung auf einem besonders blutigen Kapitel in der Geschichte der Industrialisierung, nämlich Walfang und „Robbenschlag“ zwecks massenhafter Gewinnung von Tran als industriellem Rohprodukt.
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